Die Neuralleiste umfasst eine Zellpopulation, welche während der Neurulation im Übergangsbereich zwischen Oberflächenektoderm und Neurektoderm aus der Neuralplatte ausgeschieden wird. Diese Zellen wandern an zahlreiche Stellen des Körpers, wo sie sich zu unterschiedlichsten Strukturen entwickeln. Die Neuralleistenzellen differenzieren sich zuerst in der Gegend des Mesencephalons (Neuralleiste des Kopfbereichs) und später in den weiter rostral und caudal liegenden Regionen (spinale Neuralleiste).
Noch vor dem Verschluss des Neuroporus rostralis wandern die Zellen der Neuralleiste im Kopfbereich aus. Entsprechend den drei primitiven Hirnbläschen teilen sie sich in drei Gruppen auf (siehe blaue, violette und rosa Pfeile in der Abbildung zur Neuralleiste im Kopfbereich)
Daraus gehen zwei Zellpopulationen hervor:
- Die Zellen, welche ihrer neuronale Bestimmung treu bleiben und sich zu den sensiblen und parasympathischen Ganglien der Hirnnerven entwickeln (V, VII, IX und X)
- Die Zellen mit mesektodermaler Bestimmung, welche sich zu lockerem Bindegewebe des Kopfes entwickeln. Sie beteiligen sich an der Entstehung der Kiemenbogenderivate (Knorpel und Knochen der Nasengegend, des Mittelohrs und des Halses, Haut und Muskeln des Gesichts, Zahnpapillen) sowie der Gliazellen (Satellitenzellen und Schwann' Zellen).
In der Kiemenbogengegend steht die Wanderung Neuralleistenzellen in enger Beziehung zu den Genprodukten der homöotischen Gene Hox-2
am Ende der 5. Woche und beim Erwachsenen

Die Zellen der spinalen Neuralleiste (caudal des 6. Somiten) lösen sich und wandern aus während sich das Neuralrohr schliesst. Sie schwärmen hauptsächlich in drei Richtungen aus:
- Die Pigmentzellen in dorsolateraler Richtung (blauer Pfeil)
- Die Zellen des Sympathicus in ventraler Richtung zwischen Neuralrohr und Somiten (violetter Pfeil)
- Die sensiblen Neuronen des peripheren Nervensystems (Spinalganglien der Dorsalwurzeln) nach ventrolateral durch die ventrale Hälfte der Somiten hindurch (rosa Pfeil)
Aus den Zellen der spinalen Neuralleiste gehen zudem nicht-neuronale Strukturen hervor, namentlich die Leptomeninx (Pia mater und Arachnoidea), sowie Gliazellen (Schwann' Zellen) und die neurosekretorischen, chromaffinen Zellen des Nebennierenmarks.

- Neuralleiste
- Spinalganglion und Gliazellen
der Dorsalwurzel - Melanozyten
- Ganglien und Glia des
Sympathicus-Grenzstrangs - Nebenniere, in Entwicklung
- Prävertebralganglien und Glia
- Intramurale viszerale Ganglien
und Glia - Somit
- Chordafortsatz
- Aorta
Die wichtigsten Strukturen, die sich von der Neuralleiste herleiten, sind die Folgenden:
- Neuronen und sensible Ganglien von Spinalnerven und Hirnnerven
- Neuronen der sensiblen Ganglien des vegetativen Nervensystems (Sympathicus und Parasympathicus)
- Neuronen des intrinsischen Nervensystems im Magendarmtrakt
- Gliocyten des peripheren Nervensystems (Satellitenzellen und Schwann' Zellen)
- Pia mater und Arachnoidea (nicht jedoch die Dura mater)
- Melanocyten der Epidermis, der Haare und Nägel
- Mesektoderm des Gesichts: Zähne, Skelett, Gesichtsmuskulatur
- Teilweiser Beitrag an den Kiemenbogenapparat, insbesondere Tonsilla palatina, Thymus, Thyroidea, Parathyroidea, Tränendrüsen und Speicheldrüsen
- Gefässwand der Aortenbögen, Herzseptum, Semilunarklappen
- Zellen des diffusen endokrinen Systems APUD** (Amine Precursor Uptake and Decarboxylation): Nebennierenmark (welches als sympathisches Ganglion im weiteren Sinn betrachtet werden kann)
** System verstreuter neuroendokriner Zellen, die Hormone produzieren. Diese Zellen gehen während des embryonalen Lebens aus der Neuralleiste hervor. Sie ordnen sich entlang der Vena cava zu kleinen Zellhaufen an (Paraganglien). Aus der grössten Ansammlung jeder Seite geht das entsprechende Nebennierenmark hervor. Andere Paraganglien finden sich in Begleitung parasympathischer Hirn- und Thorakalnerven (z. Bsp. Glomus caroticum, vertebrale Paraganglien)
Die Fähigkeit zur Auswanderung sowie ihr breit gefächertes Entwicklungspotential erklären das Auftreten von Zellen der Neuralleiste an von ihrem Ursprung weit abgelegenen Orten. Die möglichen Folgen von Fehlentwicklungen der Neuralleiste bilden eine heterogene Gruppe von Krankheiten, die mit Störungen der Migration oder der Proliferation der Neuralleisten zusammenhängen. Sie betreffen verschiedenste Organe, bevorzugt jedoch die Haut und das Nervensystem
Es seien hier nur die wichtigsten Anomalien der Neuralleisten genannt. Dazu gehören Missbildungen, die zurückgehen auf:
- Störungen der Migration oder der Morphogenese
- Die Hirschsprung-Krankheit mit einer Inzidenz von 1/5000 Geburten. Es handelt sich dabei um eine Anomalie in der Entwicklung des intrinsischen Nervensystem des Colons.
- Die DiGeorge-Krankheit, d. h. das Fehlen von Thymus, Parathyroidea und Thyroidea, ist mit verschiedenen kongenitalen Herzmissbildungen verbunden.
- Das de Waardenburg-Syndrom, in welchem Pigmentierungsstörungen, Taubheit und Hypertelorismus vergesellschaftet sind. Dieses klinische Krankheitsbild geht auf verschiedene Mutationen des Gens PAX 3 auf Chromosom 2 zurück
- Tumoröse Wucherungen
- Die Neurofibromatose von Von Recklinghausen als häufigste Anomalie der Neuralleiste (Inzidenz von 1/3'000 Geburten). Diese Krankheit wird autosomal dominant vererbt. Sie manifestiert sich in zahlreichen Neurofibromen (Tumoren des peripheren Nervensystems) und als sog. "Café-au-lait"-Flecken in der Haut. Das für diese Erkrankung verantwortliche Gen wurde kloniert.
- Die tuberöse Sklerose von de Bourneville mit einer Inzidenz von 1/10'000 Geburten. Die Krankheit wird dominant autosomal vererbt
- Das Phäochromozytom, welches am häufigsten auf Höhe des Nebennierenmarks auftritt, aber auch im Bereich des Abdomens, entlang der Aorta oder im Thoraxbereich vorkommt