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Entwicklung des Myelencephalons (5. Hirnbläschen oder Medulla oblongata oder Bulbus spinalis)

Das Myelencephalon stellt den caudalen Teil des Rhombencephalons dar. Es bildet beim Adulten die Medulla oblongata oder Bulbus spinalis. Das Myelencephalon beherbergt die meisten Kerngebiete der Hirnnerven sowie die Zentren, welche unter anderem Atmung, Herzrhythmus, Schluckakt, Husten und Erbrechen überwachen. Es handelt sich um einen Übergangsbereich zwischen Rückenmark und Gehirn, so dass zahlreiche strukturelle Homologien zum Rückenmark bestehen, namentlich im caudalen Bereich des Myelencephalons.

 

Entwicklung des caudalen Teils des Myelencephalons

Im « röhrenförmigen » caudalen Teil des Myenlencephalons wandern die Neuroblasten aus den Flügelplatten in die Marginalzone aus, wobei jederseits die Nuclei gracilis (medial) und cuneatus (lateral) gebildet werden. Es handelt sich dabei um Schaltstellen der proprioceptiven und der epikritischen Sensibilität, die an Cerebellum und Thalamus herangeführt werden. Durch den ventralen Teil des Myelencephalons hingegen zieht vom 4. Monat an die Pyramidenbahn (oder Tractus corticospinalis als Bahn der Willkürmotorik). Die Kreuzung der beiderseitigen Bahnen, die Decussatio pyramidum, markiert die Grenze zwischen Myelencephalon (Medulla oblongata) und Rückenmark (Medulla spinalis).

Abb. 49 - Seitenansicht des ZNS
Fünfbläschenstadium
ca. 38. Tag
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Abb. 50 - Rohrförmiger, caudaler Teil
des Myelencephalons
ca. 39. Tag
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  1. Nucleus gracilis
  2. Nucleus cuneatus
  3. Flügelplatte
  4. Grundplatte
  5. Pyramis (Tr. corticospinalis)
  6. Canalis centralis

Legende
Abb. 49, 50

Querschnitt durch den caudalen Teil des Myelencephalons. Beachte die strukturellen Ähnlichkeiten zum Rückenmark, welche in diesem Hirnabschnitt bestehen.

Abb. 50
 

Entwicklung des rostralen Teils des Myelencephalons

Im « offenen », rostralen Teil des Myelencephalons führt die Ausbildung der Brückenbeuge auf deren dorsaler, konkaven Seite zu einer rautenförmigen Ausweitung des Dachs des Ventrikelsystems (Bildung der sekundären Hirnbläschen und der Hirnbeugen). Die seitlichen Begrenzungen des Neuralrohrs weichen auseinander (ähnlich dem Aufschlagen eines Buches), wodurch die Erweiterung des IV. Ventrikels entsteht.

Durch dieses Auseinanderziehen wird das Dach des Myelencephalons äusserst dünn, es entsteht das Velum medullare caudale mit dem Plexus choroideus des IV. Ventrikels. Bei Letzterem handelt es sich um eine einschichtige Lage spezialisierter Ependymzellen (Lamina epithelialis) welche vom gefässreichen Mesenchym der Pia mater (Tela choroidea) unterlagert wird. Durch das Wuchern dieser Elemente an ihren seitlichen Rändern entsteht der Plexus choroideus. Dieser bildet - wie alle Plexus choroideï - Liquor cerebrospinalis, Hirn-Rückenmarksflüssigkeit, als Ultrafiltrat des Blutes. Zudem vermittelt der Plexus den Transport von Nährstoffen und Elektrolyten, und er eliminiert toxische Stoffwechselprodukte

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Abb. 51 - Seitenansicht des ZNS
Fünfbläschenstadium
ca.38. Tag
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Abb. 52 - "Offener", rostraler Teil
des Myelencephalons
um die 6. Woche
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  1. IV. Ventrikel
  2. Deckplatte
  3. Flügelplatte
  4. Grundplatte

Legende
Abb. 51, 52

Die Seitenwände beginnen auseinander zu weichen. Dadurch wird das Dach (Deckplatte) breit und dünn. Analog zum Rückenmark lassen sich in der Seitenwand die Flügelplatten und die Grundplatten mit dazwischen verlaufendem Sulcus limitans erkennen.

Abb. 52
Abb. 53 - Seitenansicht des ZNS
Fünfbläschenstadium
ca. 44. Tag
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Abb. 54 - "Offener", rostraler Teil
des Myelencephalons
ca. 7. Woche
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  1. IV. Ventrikel
  2. Deckplatte
  3. Flügelplatte mit somato- und visceroafferenten Anteilen
  4. Grundplatte mit somato- und visceroefferenten Anteilen
  5. Sulcus limitans
  6. Olivenkerne

Legende
Abb. 53, 54

Die Deckplatte wurde noch weiter auseinander gezogen und überdacht nun die Rautengrube des IV. Ventrikels. Durch diesen Umformungsprozess kommen die Flügelplatten und die Grundplatten praktisch in eine Horizontalebene zu liegen. Zwischen beiden verläuft jedoch nach wie vor der Sulcus limitans. Ferner kommt es ventral im Bulbus spinalis durch Auswanderung von Neuronen aus der Flügelplatte zur Bildung der Olivenkerne.

Abb. 54
 

Zusammenfassung:
Die extreme Reduktion der Wandstärke im dorsalen Teil des Neuralrohrs führt zum Aufeinandertreffen des ependymalen Epithels (Lamina epithelialis) mit der Leptomeninx (Pia mater und Arachnoidea), wodurch ein Plexus choroideus entsteht. Dieser dehnt sich in den Ventrikelraum aus und bildet den Liquor cerebrospinalis.

  • Im Gegensatz zum Dach kommt es im Bereiche der Seitenwände und des Bodens zu einer Verdickung des Neuralrohrs. Dort liegen Grundplatte (medial) und Flügelplatte (lateral) nebeneinander, getrennt durch den Sulcus limitans. Parallel zu diesen Umformungsprozessen zerfallen die im Rückenmark zusammenhängenden Säulen von grauer Substanz in einzelne Kerngebiete (von denen einige eine beträchtliche Längenausdehnung aufweisen können). Ab dem 28. Tag entstehen aus den Grundplatten des Rhombencephalons die motorischen Kerngebiete der Hirnnerven V bis XII, etwas später um die 5. Woche aus den Flügelplatten die entsprechenden sensiblen Kerngebiete. All diese Kerngebiete liegen auf 7 längs verlaufenden Trajektorien, von denen die vegetativen dem Sulcus limitans benachbart sind, während sich die somatosensiblen lateral und die somatomotorischen medial anlagern. Im Kapitel zur Einteilung der Hirnnerven wird die Anordnung dieser Kerngebiete ausführlich erörtert.
    Hier sei lediglich noch angemerkt, dass auch die Ventralverlagerung der weissen Substanz infolge der genannten Umgestaltungsvorgänge zur Fragmentierung der Grundplatten und der Flügelplatten in einzelne Kerngebiete beiträgt.

  • Aus den Seitenwänden des Myelencephalons gehen die unteren Kleinhirnstiele (Pedunculi cerebellares inferiores) hervor. Sie führen spino-cerebelläre, bulbo-cerebelläre und vestibulo-cerebelläre Fasern.
Abb. 55 - Seitenansicht des ZNS
Fünfbläschenstadium
um die 8. Woche
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Abb. 56 - "Offener", rostraler Teil
des Myelencephalons
um die 8. Woche
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  1. IV. Ventrikel
  2. Deckplatte
  3. Plexus choroideus
  4. Olivenkerne
  5. SSA (Somatosensorik)
  6. ASA (Somatosensorik)
  7. SVA (Viszerosensorik)
  8. AVA (Viszerosensorik)
  9. AVE (Viszeromotorik)
  10. SVE (Viszeromotorik)
  11. ASE (Somatomotorik)

Legende
Abb. 55, 56 Abb. 56

Durch die Streckung und Dickenabnahme der Deckplatte entsteht das Velum medullare, in welchem sich jederseits ein Plexus choroideus entwickelt. In diesem Stadium organisieren sich die Grundplatten und die Flügelplatten jederseits zu sieben Reihen von Kerngebieten (motorische: medial; viscerale: beidseits des Sulcus limitans; sensible: lateral). Die Olivenkerne entstammen den Flügelplatten und sind nun deutlich abgrenzbar.

 

 
Zur Erinnerung
  • SSA: spezielle somatische Afferenzen (Somatosensorik)
  • ASA: allgemeine somatische Afferenzen (Somatosensibilität)
  • SVA: spezielle viscerale Afferenzen (Viszerosensorik)
  • AVA: allgemeine viscerale Afferenzen (Viszerosensibilität)
  • AVE: allgemeine viscerale Efferenzen (Viszeromotorik Kiemenbögen)
  • SVE: spezielle viscerale Efferenzen (Viszeromotorik X und IX)
  • ASE: allgemeine somatische Efferenzen (Somatomotorik)
  • Die Olivenkerne bestehen aus Neuronen, welche aus der Flügelplatte auswandern und sich im Bulbus spinalis ansiedeln. Es ist dies die erste supra-spinale Struktur, welche entsteht. Die Olivenkerne stellen ein besonderes Kerngebiet der Formatio reticularis dar und bilden eine Schaltstelle der unwillkürlichen Motorik.
 

Einteilung der Hirnnerven

 
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Klicken Sie auf START, um dieses interaktive Schema anzuschauen:
Wenn Sie den Mauszeiger über den Flächen ABCD über der linken Hälfte obiger Abbildung bewegen (Querschnitt durch das Thorakalmark) werden die entsprechenden Strukturen des Myelencephalons in der unteren Darstellung hervorgehoben.

Beachte: es handelt sich dabei um eine idealisierte, schematische Darstellung.
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A
Somato-sensible Zone
SSA
Säule der speziellen somatischen Afferenzen (Gehör, Gleichgewicht)
ASA
Säule der allgemeinen somatischen Afferenzen
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B
Viscero-sensible Zone
SVA
Säule der speziellen visceralen Afferenzen (Geschmack)
AVA
Säule der allgemeinen visceralen Afferenzen
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C
Viscero-motorische Zone
AVE
Säule der allgemeinen visceralen Efferenzen
SVE
Säule der speziellen visceralen Efferenzen
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D
Somato-motorische Zone
ASE
Säule der allgemeinen somatischen Efferenzen
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Die Hirnnerven vermitteln die vier generell am ganzen Körper vorkommenden und deshalb "allgemein" genannten Qualitäten sowie drei weitere, nur im Kopfbereich vertretene Modalitäten (Riechen und Geschmack, Sehen und Hören), die deshalb als "speziell" gekennzeichnet werden.
Die dazugehörigen Bereiche grauer Substanz ordnen sich im Neuralrohr zu Säulen.

Aus den Grundplatten gehen im Kopfbereich die motorischen Kerngebiete der Hirnnerven hervor:

  • Die Säule der allgemeinen somatischen Efferenzen (ASE) stellt die Fortsetzung des Vorderhorns des Rückenmarks dar und liefert im Bereiche des Myelencephalons das somatomotorische Kerngebiet des XII. Hirnnerven (N. hypoglossus), welcher die 4 Okzipitalmyotome und die Zunge innerviert. In Metencephalon und Mesencephalon gehen aus dieser Säule die Kerngebiete der Hirnnerven III (N. oculomotorius), IV (N. trochlearis) und VI (N. abducens) hervor, welche der Steuerung der äusseren Augenmuskeln (als Abkömmlinge des prächordalen Mesenchyms) dienen

  • Die Säule der speziellen visceralen Efferenzen (SVE) umfasst die motorischen Neurone der Hirnnerven IX, X und XI im Bereiche des Myelencephalons. Sie dienen der Innervation der quergestreiften Kiemenbogenmuskulatur von Pharynx und Larynx

  • Die Säule der allgemeinen visceralen Efferenzen (AVE) beinhaltet die Perikaryen der präganglionären parasympathischen Neurone. Sie bilden im Myelencephalon den Nucleus dorsalis n. vagi, welcher der Steuerung der Herzmuskulatur sowie der glatten Muskulatur der Eingeweide dient. Weitere parasympathische Kerngebiete sind der Nucleus salivatorius inferior des N. glossopharyngeus, dessen Erfolgsorgan die Glandula parotis darstellt, der Nucleus salivatorius superior des N. facialis, der die übrigen Drüsen des Kopfes versorgt, sowie der Nucl. accessorius n. oculomotorii (Edinger-Westphal-Kern), der für die Steuerung innerer Augenmuskeln (glatte Muskulatur des M. sphincter pupillae und M. ciliaris) zuständig ist.

Aus den Flügelplatten entstehen die sensiblen Kerngebiete der Hirnnerven

  • Die Säule der allgemeinen visceralen Afferenzen (AVA) in Gestalt des caudalen Teils des Nucleus tractus solitarii (N. vagus), dessen Neurone die enteroceptiven Afferenzen von Verdauungstrakt und Herz empfangen

  • Die Säule der speziellen visceralen Afferenzen (SVA) erhält im rostralen Teil des Nucleus tractus solitarii Informationen von den Geschmacksknospen der Mundlhöhle, welche über Fasern der Hirnnerven VII, IX und X herangeführt werden.

  • Die Säule der allgemeinen somatischen Afferenzen (ASA) verarbeitet im Nucleus sensibilis n. trigemini Berührungsreize, Temperatur- und Schmerzempfindungen aus der Haut des Kopfbereichs. Das Kerngebiet erstreckt sich über die ganze Länge von Mesencephalon und Rhombencephalon

  • Die Säule der speziellen somatischen Afferenzen (SSA) empfängt über den VIII. Hirnnerven sensorischen Input vom Gehör- und Gleichgewichtsorgan
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Synopsis der Entwicklung des Myelencephalons

  • Bildung der Brückenbeuge und gleichzeitiges Auseinanderweichen der Seitenwände des Neuralrohrs mit Anordnung von Flügelplatte und Grundplatte in einer schräg verlaufenden Ebene

  • Erweiterung des Hohlraumsystems unter Bildung des IV. Ventrikels

  • Reduktion der Wandstärke des Dachs des IV. Ventrikels zum Velum medullare

  • Verlagerung der grauen Substanz in den Boden des IV. Ventrikels und Anordnung als Kerngebiete der Hirnnerven auf Trajektorien, die einer Fortsetzung von Dorsalhorn (somatosensorische und somatosensible Kerngebiete), Seitenhorn (viscerosensible und visceromotorische Kerngebiete) und Ventralhorn (motorische Kerngebiete) entsprechen