22.2 Frühembryonale Entwicklung des Nervensystems: Bildung von Neuralrohr und Neuralleisten




Primäre und sekundäre Neurulation



Die primäre Neurulation umfasst die Bildung des primitiven Neuroalrohrs aus jenem Bereich des Oberflächenektoderms, welcher sich dorsal des Chordafortsatzes (Kopffortsatz) befindet. Dieser Vorgang wird durch den axialen Mesoblasten, die Chorda dorsalis und die Prächordalplatte (Chorda-Mesoderm-Komplex) induziert 6. In der Tat konnte die induktive Wirkung dieser Strukturen bei der Umwandlung des Ektoblasten in das Neurektoderm zuverlässig belegt werden nachdem das Prinzip bereits anfangs des 20. Jh. (Spemann 1924) erkannt worden war. Neben der neuroblastischen Induktion umfasst die Determinierung des Zentralnervensystems auch die histologische Differenzierung (Histogenese) des neuronalen Gewebes (Molekulare Mechanismen während der frühembryonalen Entwicklung des ZNS).

Im Gegensatz zur primären Neurulation betrifft die sekundäre Neurulation die Entwicklung des caudalen Teils des Neuralrohrs auf Höhe des 31. Somiten (von der 4. bis zur 7. Woche). Dabei sei in Erinnerung gerufen, dass der Primitivstreifen vor seinem Verschwinden am 29. Tag eine bleibende mesodermale Struktur hervorbringt, welche als Eminentia caudalis bezeichnet wird. Auf diese gehen der caudale Teil des Neuralrohrs und damit die Verlängerung des Rückenmarks zurück. Im ursprünglich kompakten Strang entsteht ein Hohlraum, der sich mit dem Zentralkanal verbindet und welcher schliesslich von einem Neuralepithel ausgekleidet wird. (29)


Abb. 2 - Die sekundäre Neurulation (4. bis 7. Woche)  Legende

1a
1b
1c
2
Mesodermal, kompakte Eminentia caudalis
Hohlraumbildung in der Eminentia caudalis
Vereinigung des Neuralrohrs mit der Eminentia caudalis
Neuralrohr

Abb. 2
Die sekundäre Nerulation betrifft die Entwicklung des Caudalendes des Neuralrohrs. In der mesodermalen Eminentia caudalis entsteht ein Hohlraum, welcher Anschluss findet an den Zentralkanal des Neuralrohrs.



Die Induktion des Neuralrohrs führt zur Unterscheidung von drei ektodermalen Gebieten mit je eigener Bestimmung.
  • Das dorsomediane Ektoderm (zukünftige Neuralplatte), aus welchem das Neuralrohr hervorgeht
  • Das Ektoderm im Grenzbereich des Neuralepithels, aus welchem die Neuralleisten hervorgehen
  • Das laterale Ektoderm, aus welchem die Epidermis und die epiblastischen Plakoden entstehen

Abbildung

Schematische Darstellung.



Bildung des Neuralrohrs


Das Auftreten der Neuralplatte am 19. Tag 7 stellt das initiale Ereignis bei der Entwicklung des künftigen Nervensystems dar. Die Neuralplatte entwickelt sich cranial des Primitivstreifens 6-7 in Gestalt einer medio-sagittalen Verdickung des Ektoderms, welche einem cranio-caudalen Gradienten folgt. Am cranialen Ende entwickelt sich die Neuralplatte rascher, so dass sie sich am Entstehungsort des künftigen Gehirns deutlich verbreitert, während der caudale Teil, aus welchem das Rückenmark hervorgeht, schmal bleibt. Dadurch nimmt die Neuralplatte die Gestalt eines Schlägers an. Diese Umgestaltungsvorgänge vollziehen sich gleichzeitig mit der Gastrulation.


Abb. 3 - Bildung des Neuralrohrs, Dorsalansicht um den 19, Tag Abb. 4 - Bildung des Neuralrohrs, Dorsalansicht um den 21. Tag  Legende

1
2
3
Neuralplatte
Chordafortsatz
Primitivstreifen


1
2
3
Neuralplatte
Chordafortsatz
Primitivstreifen

Abb. 3, Abb. 4.
Die schematische Ansicht der Keimscheibe in der 3. Woche zeigt die Entwicklung von Neuralplatte, Primitivstreifen und Chordafortsatz.

In der Darstellung des Stadiums um den 21. Tag ist die "schlägerähnliche" Verbreiterung des rostralen Teils der Neuralplatte deutlich zu erkennen.


Abb. 5 - Chordafortsatz
19. Tag (Stadium 7)
Abb. 6 - Chordafortsatz
19. Tag (Stadium 7)
 Legende

1
3
Chordafortsatz
Embryonales Entoderm


2 Ektoderm (in der Mitte oberhalb
der Chorda: Neurektoderm)

Abb. 5
Schematische Darstellung der Bildung der Chorda dorsalis am 19. Tag durch Invagination ektodermaler Zellen, welche vom Primitivknoten stammen.

Abb. 6
Schnittbild entsprechend Schnittebene C



Die Neuralplatte entwickelt sich oberhalb des Chordafortsatzes und unter der induktiven Wirkung des axialen Mesoderms (Prächordalplatte und Chordafortsatz). Der Mechanismus der Induktion ist komplex und soll durch induktive Substanzen gesteuert werden, welche von den Zellen des axialen Mesoderms sezerniert werden. Diese Steuerungsfaktoren diffundieren zu den darüberliegenden ektodermalen Zellen, in welchen sie Gene aktivieren, die für die Differenzierung des ektodermalen Epithels in ein mehrreihiges hochprismatisches Epithel, das Neurektoderm verantwortlich sind.



Die Neuralplatte taucht somit am Cranialende des Embryos zuerst auf und dehnt sich an seinem Caudalende durch Rekrutierung weiterer neurektodermaler Zellen weiter aus. Die Ränder der Neuralplatte werfen sich im Laufe der 3. Woche als Neuralfalten auf und begrenzen dadurch die Neuralrinne 8. Durch die C-förmige Längskrümmung des Embryos werden die vorderen und hinteren Anteile der Neuralplatte nach ventral eingerollt.

Animation

Längskrümmung des Embryos (cranio-caudal)


Die Ränder der Neuralrinne nähern sich einander an und verschmelzen schliesslich ab dem 28. Tag unter Bildung des Neuralrohrs 10.
Gleichzeitig isolieren sich auf beiden Seiten Zellansammlungen im Übergangsbereich zwischen Ektoderm und Neurektoderm. Diese lateralen Zellstränge bilden die Neuralleisten 9. Der Verschluss des Neuralrohrs beginnt im Halsbereich (auf Höhe des 4. Somiten) und schreitet gleichzeitig nach cranial (Verschluss des Neuroporus rostralis am 29. Tag 11) und nach caudal (Verschluss des Neuroporus caudalis am 30. Tag12) fort. Der Stelle des Neuroporus rostralis entspricht am adulten Gehirn die Lamina terminalis, dem Neuroporus caudalis das Filum terminale.
Bei fehlerhaftem Verschluss des hinteren Neuroporus entsteht eine Defektmissbildung, die als Spina bifida bezeichnet wird. Bleibt der Verschluss des vorderen Neuroporus aus, so kommt es zur Anencephalienencephalie.

Der Verschluss des Neuralrohrs hängt eng mit der Tatsache zusammen, dass sich die neurektodermalen Zellen gegenseitig erkennen und ihre Hafteigenschaften dank erhöhter Expression von N-Cadherinen und N-CAMs steigern.Das Oberflächenektoderm verschliesst sich über Neuralrohr und Neuralleisten wieder. Etwa 50% des Ektoderms entwickeln sich zur Neuralplatte, während aus der anderen Hälfte die künftige Epidermis hervorgeht.




Neurulation und Carnegie-Stadien:

Stadium 7, ca. 19. Tag

Neuralplatte

Stadium 8, ca. 23. Tag

Neuralfalten und Neuralrinne
   

Stadium 9, ca. 25. Tag
   

Neuralrinne noch immer offen
Bildung der Neuralleisten, Rhombomeren 
 

Stadium 10, ca. 28. Tag
  

Verschmelzung der Neuralfalten
Bildung des Neuralrohrs

Stadium 11, ca. 29. Tag
  

Verschluss des Neuroporus rostralis

Stadium 12, ca. 30. Tag
  

Verschluss des Neuroporus caudalis
Sekundäre Neurulation

Stadium 13, ca. 32. Tag

Vollständiger Verschluss des Neuralrohrs



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